Presse-Echo - September 2018

Armut trotz Wirtschaftsboom

Quelle: WLZ vom 25.09.2018.

Von Hans Peter Osterhold

KORBACH. Die Wirtschaft in Deutschland brummt, aber gleichzeitig gibt es immer mehr Armut im Land. Wie geht das zusammen? Professor Rudolf Hickel vertritt Thesen, die polarisieren. Den hochkarätigen Wirtschaftswissenschaftler hatte der Freundeskreis der Stadtbücherei zu einem Vortrag zum Thema "Armut - trotz Wirtschaftsboom" ins Bürgerhaus eingeladen. Ein Single gilt als arm, wenn er ein Einkommen von weniger als 617 Euro netto im Monat hat, eine vierköpfige Familie bei weniger als 1978 bis 2355 Euro. Die oberen Einkommen haben sich auf ihrem Niveau gehalten oder gar verbessert. Zehn Prozent der Bevölkerung verfügt über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Diese ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen ist laut Hickel eine Ursache für wachsende Armut.

Mittelschicht schrumpft

Die Unternehmensgewinne stiegen stärker als die Arbeitseinkommen. Zwar sinke die Arbeitslosigkeit, aber der Anteil des Niedriglohnsektors nehme parallel zu. Außerdem habe der Staat sozialstaatliche Sicherungssysteme abgebaut. Die Agenda 2010 fördere die soziale Spaltung und treibe Armut voran. Niedriglohnbeschäftigung, Erwerbsarmut und Altersarmut lasse die Mittelschicht schrumpfen, führte Hickel aus.

Die Riester-Rente sei zwar gut gemeint, treibe aber wieder in die Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Das Modell des Neoliberalismus von „mehr Markt“ sei gescheitert und habe eher eine „völkische Renationalisierung“ mit abschottendem Wirtschaftsprotektionismus gefördert, sagt der Wissen$chaftler.

Die Vermögenskonzentration seit den 1980er-Jahren macht Hickel ebenfalls als einen wichtigen Grund für die Ungleichheit aus. "Übersparen" bedeute: wandert in internationale Finanzmärkte auf der Suche nach rentierlichen Anlagemöglichkeiten statt in Sachwerte vor Ort. Diese Finanzmärkte seien meist dereguliert und damit äußerst krisenanfällig. Die Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus habe zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Bankensystem geführt. Das Ganze löse mittlerweile soziale Ängste in der Bevölkerung aus, die Folge: Auch die Akzeptanz in das demokratische System leide, was aktuell in manchen Ausschreitungen zu beobachten sei.

Lohnquote steigern

Hickel sieht in mehr Regulierung der Finanz-, Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkte durch den Staat einen Lösungsansatz. "Die Banken sollen sich auf ihre eigentlichen Aufgaben besinnen". Die Lohnquote müsse gesteigert werden, der Mindestlohn sei ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings seien die regionalen Unterschiede erheblich, in Leipzig reiche er aus, in München müsse er eigentlich 12,77 Euro betragen.

Hickel fordert den Abbau des Niedriglohnsektors, der durch Hartz IV vorangetrieben wurde und die Stärkung des bedarfsorientierten Sozialstaats, einen stärkeren Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Mehr Abschöpfung des Staates, beispielsweise bei Spitzenverdienern oder großen Erbschaften, schaffe Raum für öffentliche Investitionen.

Demokratie in Gefahr

Hickels Vortrag kam in einer gut besuchten Veranstaltung gut an, eine etwas klarere Struktur und übersichtlichere Präsentation hätten ihm dennoch gutgetan. In der anschließenden Diskussionsrunde ging es munter mit Fragen und Diskussionsbeiträgen hin und her. "Eigentlich müssten doch die Linken von der Situation profitieren", stellte ein Zuhörer fest und wollte wissen, warum das nicht so ist. Eine Studie habe alle Krisen in den letzten 200 jahren untersucht und festgestellt, dass linke Bewegungen noch nie von Krisen profitierten, sagte Prof. Hickel.

Die "völkische Renationalisierung" sei bis heute immer wieder der Nutznießer gewesen: "Ich habe aktuell große Befürchtungen um unsere Demokratie." Beim Thema Mindestlohn geht er sowieso mit, aber Lohn-Obergrenzen in börsennotierten Unternehmen würde er auch unterstützen.

Parteipolitisch wollte sich Hickel am Ende nicht festlegen und auch keine Ratschläge verteilen: "Was Sie bei Ihrer Wahlentscheidung aus Ihren Erkenntnissen machen, ist Ihre Sache". (os)

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